Die Fledermäuse fliegen noch!

Die Fledermäuse fliegen noch! Es ist wieder mal Zeit für ein paar Reisegedanken. Meine letzten Reiseworte habe ich in Kuba zu Papier, respektive auf den Bildschirm gebracht, vor zwei gefühlten Ewigkeiten. Welten liegen dazwischen, im wörtlichen Sinne. Kuba, das hiess am Ende Abschied nehmen von Havanna und von Menschen, die ich lieb gewonnen habe. Der Zwischenstopp in Cancun, Mexico, bedeutete: Rennen, rennen, rennen, jemanden mit den letzten Pesos bestechen und den Weiterflug grad noch erwischen. Und dann: San Francisco. Welch hügelige, wunderbare Stadt, bekannt für ihre Farbenvielfalt, und doch erscheint sie mir seltsam pastell nach dem impulsiv-bunten Havanna. Das Leben war auf Kuba besser spürbar. Es ging tiefer, verfing sich nicht an Oberflächlichkeiten. Wieviele Kubaner habe ich gesehen, die ihre Fahrräder und Rikschas mit US-Flaggen schmückten: Die USA, ihr ersehnter und unerreichbarer Traum. Und doch; ich frage mich, ob sie sich im Land der vermeintlich unbeschränkten Möglichkeiten wohl fühlen würden.

In den USA ist alles XXLarge. Die Speiseberge auf den Tellern, die SUVs, mit denen die Mütter ihre Kinder in die Schule fahren, die Kleidergrössen eines Drittels der Bevölkerung, die Verpackungen in den übervollen Supermärkten. Hunderte Sorten des gleichen Produkts in den Regalen, während im Einkaufsladen in Havanna an manchen Tagen nur Rum und Wasser und zu wenig Brot zu kaufen war. Es ist eine Rückkehr in die Zivilisation des komfortablen Überflusses und des Highspeed-Internets, in der die eigene Wichtigkeit gewichtiger ist. Gleichzeitig drängt in San Francisco die Armut in die Sichtbarkeit. Schäbige Zelte von hoffnungslosen Obdachlosen an dichtbefahrenen Strassen. Menschen mit müden Seelen in kaputten Körpern, zerstört von Alkohol und Drogen. Verlierer der schein-heilen reichen Welt, welche, ein paar Tage später, in Reno umso eindringlicher und künstlicher und falscher erstrahlt. Casinos reihen sich an Casinos, die halbe Städte beinhalten, Blinklichter konkurrenzieren mit Münzenklimpern. Die Gesichter der Spieler verraten kein Glück. Ein Gedanke streift mich: Würde jeder, der hier Hunderte Dollar verspielt, zehn Dollar den Flüchtlingen in Griechenland spenden … dann könnten die schrecklichen Lager aufgegeben und einem jeden Geflohenen ein Dach über dem Kopf geboten werden. Und wer weiss, vielleicht würde das Glück in die Gesichter der Spieler zurückkehren.

Meine drei temporären Begleiter aus der Heimat werden neue Freunde. Wir lassen Reno hinter uns, beladen den Wagen mit viel Wasser und zu viel Essen, weil wir nicht wissen, dass einem die Wüste den Hunger nimmt. Black Rock Desert, Nevada: Burning Man! Nein, nicht erneut eine andere Welt…. es ist eine Reise auf einen fremden Planeten. Ein Planet, in dem die Phantasie das Sagen hat und sich jeder und jede und alle ständig umarmen, so dass ich der „hugs“ auf einmal fast schon überdrüssig bin. Worte versagen, um diese acht Tage zu beschreiben. Und wenn ich sie finden würde, würden sie allein zu viel Platz auffressen. Darum nur kurz. Burning Man heisst: Während das Tages mit dem Fahrrad durch die nur für eine Woche existierende Stadt der Wunderlichkeiten zu radeln, auf ein Kunstmobil zu klettern und herumgefahren zu werden, und auf der unendlich weiten Playa jedes Mal neue Kunstwerke zu entdecken, riesige und kleine, feine, verrückte und magische, fantastische, futuristische, bezaubernde – sowie auch schräge Leuchttürme, Pyramiden, der Tempel, die alle brennen werden, zum Schluss. Riesenfeuer.

Burning Man heisst: Dass die Nacht die Wüste in eine Welt der bunten Lichtpunkte und der lauten Klänge verwandelt. Mit dem Rad durch das von Lichtern gesprenkelte Schwarz kilometerweit über die Playa zu fahren, mal hier, mal dort anzuhalten, um etwas zu sehen, das man so noch nie gesehen hat, um verloren zu gehen und sich wieder zu finden, um zu tanzen oder um in einen Sandsturm zu geraten, der einen erblinden lässt. Das alles ist Burning Man und noch viel mehr.

Und danach geht es zurück in die Realität. In die amerikanische Realität.

Im Sportgeschäft kauft man sich hier Gewehre, Pistolen und Armbrustbogen inklusive Munition wie bei uns Gemüse im Supermarkt. Im Eingangs-Foyer hängen die Fotos stolzer Kunden neben ihren erlegten Tieren, darunter Löwen, Leoparden und ein Elefant, getötet im Busch in Afrika.

Im Tankstellen-Shop blickt mir vom Titelblatt eines Magazins eine verunstaltete Hillary Clinton entgegen; so würde sie aussehen, kurz nachdem sie mit 130 Jahren an Krebs gestorben wäre. Ich beginne am Wert der uneingeschränkten Pressefreiheit zu zweifeln. Apropos Medien: Radio hören unterwegs geht gar nicht. Auf jedem zweiten Sender bläut mir der Moderator oder die Moderatorin zwischen den Songs ein, wie wichtig es ist, Jesus zu lieben und zu beten. Ich frage mich, in was für einen Gottesstaat ich hier geraten bin. Befinde ich mich wieder mal mit leer werdendem Tank mitten im Nirgendwo, finde ich jedesmal statt einer Tankstelle eine Kirche mit einem anderen seltsamen Namen.

Amerika ist sonderbar.

Ich fahre durch eine Stadt, in der an jeder Ecke ein grüner Alien winkt, weil hier vor über sechzig Jahren ein Ufo abgestürzt ist. Ich begegne halbverlassenen Dörfern, die ihre Seele nicht verloren, sondern gar nie eine besessen haben. Ich treffe hier Menschen, die kaum je ihren eigenen Staat verlassen haben, bei denen jedes zweite Wort „cool“ und jedes andere zweite Wort „amazing“ lautet, dargeboten in einem seltsam fröhlichen Singsang, und die meinen, Sweden, eh, Switzerland liege in England, gleich rechts von London – und ich frage mich, worüber ich mich mit ihnen unterhalten soll. Aber ich treffe auch Amerikaner, die mit mir eine Diskussion über das bedingungslose Grundeinkommen beginnen, sobald sie hören, dass ich aus der Schweiz bin.

Es ist eigenartig. Zum ersten Mal auf meinen Reisen fühle ich mich sehr europäisch.

Ob all der Politik habe ich in den letzten Jahren beinahe vergessen, welch überwältigende Natur die USA zu bieten haben. Yosemite, Death Valley, Zion, Lake Powell, Antelope Canyon, Waterhole Canyon, Grand Canyon und die fabelhaften Landschaften unterwegs und dazwischen. Diese Weiten. Unendlichkeiten. Der Himmel so gross und die wenigen Wolken so mächtig. Die Strasse ist eine gerade Linie, die weit weg in einen Punkt verschmilzt, der vom Horizont verschluckt wird. Kaum hat man den Horizont erreicht, taucht am Ende der Welt ein neuer Horizont auf, der die gleiche Strasse wiederum aufrisst. Das Spiel wiederholt sich immer von Neuem, es folgen immer neue Horizonte, als wäre das Leben eine Endlosschlaufe. „Adopt a Highway“, steht auf der blauen Tafel am Strassenrand, die mich nicht zu überzeugen vermag.

Die Natur, in der ich mich hier bewege, bringt mich dazu, laut auszurufen, weil ich derart begeistert bin – oder ganz still zu werden, weil ich so beeindruckt bin. Zum Beispiel in den Höhlen von Carlsbad, in dieser surrealen Welt 300 Meter unter dem Boden, in der die Stalaktiten und die Stalagmiten miteinander wetteifern, wer die verwunschenere Landschaft erschaffen kann. Oder als pünktlich um sieben Tausende, nein Millionen von Fledermäusen kreisend aus der Höhle aufsteigen und in Schwärmen bewegte schwarze Bilder an den Abendhimmel malen.

Sie fliegen noch, die Fledermäuse. Ich habe sie schon einmal gesehen. Ich habe schon mal auf dem gleichen Zeltplatz mein Zelt aufgestellt. 23 Jahre ist es her.

Darum fühlt sich meine Reise im Moment so an, als würde ich auf einem Pfad der Vergangenheit spazieren.

In einer Bar im Grand Canyon Village – ein furchtbarer Ort, Tonnen von Gruppen-Touristen, die sich ihre Namen auf Pappkarton schreiben und diesen um den Hals hängen oder sich an die Brust kleben mussten – in jener Bar im Grand Canyon Village also traf ich ein Ehepaar aus Boston. Sie sind frisch pensioniert und befinden sich auf ihrer zweiten Reise (im Leben!). Die erste hatte sie nach Florida, die zweite in den Grand Canyon geführt. „Wir sind Anfänger“, sagt die Frau. „Wir sind gerade daran, das Reisen zu entdecken.“ Sie fragt nach meiner ersten Reise. Ich sage: „Ich begann vor 23 Jahren zu reisen und habe seither nicht mehr damit aufgehört. Meine erste Reise führte mich durch die USA.“

Im September 1993 wanderte ich im Grand Canyon, zog weiter nach Carlsbad, nach New Orleans. Mein heutiger Weg kreuzt meine Spuren von damals und überlagert sie teilweise. Und in Tokio werde ich die Japanerin Aki treffen, mit der ich damals unterwegs gewesen bin und die ich seither nie mehr gesehen habe. Es ist seltsam, den selben Weg als älterer Mensch erneut zu gehen – im Wissen darum, wieviel Leben in den 23 Jahren dazwischen geschah. Gutes Leben. Manchmal auch schwieriges Leben. Aber immer pralles Leben. Und im Wissen darum, wie sehr jede kleine Entscheidung eine neue Türe öffnete auf dem Weg, den ich seither gegangen bin.

Im September 1993 habe ich in New Orleans ziemlich verknallt einen amerikanischen Mann geküsst. Schon damals lernte ich, dass sich in jeder Reise viele Abschiede verstecken. Ich musste Abschied nehmen, weil uns verschiedene Wege nach New York führen sollten – er kam an jenem Tag dort an, als mein Flugzeug Amerika verliess. Einsteigen oder nicht einsteigen, fragte ich mich – und bin nach Hause geflogen. Vielleicht wäre das Leben anders verlaufen, hätte ich den Flug um nur einen Tag verschoben. Vielleicht aber auch nicht. Wie schön, dass das Leben eine Reise ist.