Das Land, in dem alles anders ist

Day 103

Liebe Freunde. Es ist der 103. Tag, an dem ich auf Reisen bin, ich bin angekommen in der 39. Unterkunft, in der ich übernachten werde. Die Zeit verfliegt. Das Leben ist prallvoll, wenn man unterwegs ist. Darum heute kein Bild, sondern wieder mal ein paar Worte – auch, weil ein Freund geschrieben hat, er warte gespannt auf meine Wiederbegegnung mit der japanischen Freundin. «Und heute Abend werde ich in Tokyo jene Japanerin treffen, die ich vor 23 Jahren in den USA auf meiner ersten richtigen Reise kennengelernt und seither niemals wieder gesehen habe», stand in meinen letzten Reisegedanken.

Also. Japan. Um eines vorweg zu nehmen: In Hawaii wäre ich um ein Haar nicht in das Flugzeug gestiegen, das mich wegbringen sollte, weil mir der Abschied so schwer fiel – als ich hingegen am Flughafen in Osaka eincheckte, war ich nicht unglücklich darüber, dass ich weiterziehen konnte.

Japan ist anders. Japan ist seltsam. Japan ist auch wundersam.

Japan heisst, jeden Tag etwas Neues zu sehen und vor allem zu essen, von dessen Existenz ich bis anhin nicht einmal etwas geahnt habe. Meist ist es lecker, aber nicht immer. Oft ist es nicht definierbar für meinen ahnungslosen Gaumen. Und weil ich immer wieder in Restaurants lande, in denen sich kein einziger lateinischer Buchstabe findet und deren Speisekarte für mich ein Buch der hunderttausend verschlüsselten Zeichen ist, habe ich bis heute keine Ahnung, was ich meinem europäischen Magen alles zugemutet habe. Aber er hat sich wacker gehalten. Und ich finde: Ich mich auch 🙂 Selbst dann, als sich ein Teil des Essens noch bewegte. (Obwohl es nicht mehr lebte, wie man mir zum Glück ziemlich glaubhaft versicherte – sofern ich das richtig verstanden habe…) Die kulinarischen Herausforderungen werden nicht geringer werden, hier, wo ich jetzt bin, muss frau jederzeit damit rechnen, Hund auf dem Teller zu finden oder auf ein Schweinsohr zu beissen.

Japan ist so fremd, wie selten ein Land, das ich bereist habe. Es wirkt so fremd auf mich, weil ich vieles nicht verstehe – was nicht nur an der Sprache liegt. Und nicht nur an der Schrift, die zur Hürde wird, wenn man so simple Dinge herauszufinden versucht, wie was ein U-Bahn Ticket von der einen zur anderen Station kostet. Trotzdem ist man nie verloren, verloren gehen geht gar nicht in diesem Land, das so vollgestopft ist mit Menschen – und in dem, wie mir scheint, sich hinter jeder Ecke ein Aufpasser versteckt, der, eben, aufpasst, dass man alles richtig macht. Und falsch machen kann man hier vieles. Ich fühle mich in Japan nicht frei. Oder konkreter: Ich fühlte mich in Japan wie ein Bauerntrampel, ständig in Sorge, einen Fehler zu begehen oder in einen Fettnapf zu stapfen. Das ist viel einfacher als man meint. Eigentlich passiert es einem ständig. Die Fettnäpfe stehen hier überall herum. Die Aufpasser, oder, freundlicher ausgedrückt, die Helfer verstecken sich sogar in der U-Bahn-Station im eingemauerten Ticketautomat! Als ich irgendwann verzweifelt auf jedem Knopf rumdrücke, weil mein Ticket nicht herauskommen mag, erwische ich offenbar den «Ich-brauche-Hilfe-Knopf». In der gleichen Sekunde öffnet sich zu meinem Schrecken ein Törchen in dem Gerät, das neben vielen anderen in eine Mauer eingebaut ist, und das Gesicht eines Mannes unter einer Beamtenmütze erscheint. Das ist also das, was man unter dem Innenleben eines Automaten versteht. Ich müsste laut lachen, wenn mich der Mann nicht so bitterböse anschauen würde, offenbar habe ich ihn in der Siesta oder bei was auch immer gestört. Er fragt mich etwas, das ich nicht verstehe, englisch spricht hier kaum jemand, darum tue ich, was ich in solchen Situationen immer tue: Ich strecke ihm mein Handy hin und tippe auf den für mich unleserlichen Namen, wo ich hin muss. Der Mann streckt seinen Arm durch das kleine Törchen, drückt auf einen Knopf und schon rattert mein Ticket raus. So funktioniert das. Bevor ich mich bedanken kann, ist die Klappe wieder zu. Der Mann verschwindet so schnell er aufgetaucht ist, fast so, als hätte ich ihn nur geträumt.

In Kyoto begegne ich jeden Morgen einem ähnlich grimmigen Helfer. Er steht beim Fussgängerstreifen vor meinem Haus. Obwohl es eine Ampel hat. Wechselt das Männchen auf grün, winkt der Polizist die Fussgänger durch. Wechselt das Männchen auf rot, weist er sie an, anzuhalten. Als wären hier alle farbenblind. Und wenn ich nicht ganz genau über den Zebrastreifen gehe, weist er mich mit einer bestimmten Handbewegung an, mich an die Bodenmarkierung zu halten. Gleichzeitig scheint es hier niemanden ausser mich zu stören, dass 95 Prozent aller Velos – und deren hat es viele, das ist wunderbar – auf dem Gehsteig fahren. Und zwar ohne Rücksicht auf Verluste. Und obwohl in diesem Land fast die Hälfte aller Menschen zum Schutz vor Bakterien ihr Gesicht hinter einer Atemmaske verstecken – was es einem Burkaverbot schwer machen würde – trägt auf den Velos niemand ein Helm. Wahrscheinlich, weil sich dieser eher für die Fussgänger auf den vielbefahrenen Gehsteigen empfiehlt. Auf jeden Fall ist es hier sicherer, ein Fahrrad zu mieten als zu Fuss zu gehen. Fährt man über eine Kreuzung, steht unter der Ampel ein Polizist. Er wedelt einen bei grün durch und zeigt «Stopp» an, sobald das Rotlicht angeht. Sonderbar. Bald erstaunt es mich auch nicht mehr, dass bei der Einfahrt in ein Parkhaus gleich vier Uniformierte bereit stehen, um die Autos zu dirigieren, von denen etwa eines pro Minute erscheint.

Staunen tue ich hier oft. Zum Beispiel, wenn ich auf dem Klo sitze und entdecke, dass man ab Band das Geräusch einer Klospülung einschalten kann, mit Lautstärkenregelung, obwohl das Klo dabei gar nicht spült. Oder wenn krawattierte Geschäftsmänner in der Mittagspause mit Enthusiasmus versuchen, aus diesen grossen Plastikboxen mit einem Greifzahn nach einem Stofftier zu angeln, obwohl doch jedes Kind weiss, dass das nie gelingt und das Tier in der letzten Sekunde doch noch den Halt verliert. Oder ich staune, wenn mich Brian, der kanadische Journalist, der nach Fukushima hier gestrandet ist, in die richtige Spielhölle führt: Hier füttert man die Spielautomaten mit kleinen Kügelchen, die Aussehen wie Kugellager von Inline-Skates, und die sich dann ihren Weg durch das Gerät suchen. Jeder einzelne Kasten verursacht einen Höllenlärm und in der Halle stehen Tausende davon. Es kommt mir vor wie ein lautes Brüllen der Automaten und mein Kopf dröhnt schon nach zwei Sekunden. Für die Menschen hier ist das stundenlange Spielen im Höllenkrach ein Freizeitvergnügen. Überhaupt haben es die Automaten und Roboter den Japanern angetan. In vielen Restaurants kommt kein Kellner vorbei, man bestellt per Touchscreen, und es gibt auch sogenannte Robot-Restaurants, wo das Essen auch gleich von Robotern an den Tisch gerollt wird. Horizonterweiternd ist auch der Ausflug ins Redlight-District von Kabukicho in Tokio; die Augen der Frauen vor den Eingängen der Bordelle sind unnatürlich rund, wie jene dieser asiatischen Comicfiguren, und ich frage mich, wie die Japanerinnen in ihren kindlich anmutenden Kleidern das hingekriegt haben.

An einer bestimmten Ecke gibt es hier auch Männer für Frauen zu kaufen. Die Jungs mit einheitlicher Jon-Bon-Jovi-Frisur lächeln sogar ab grossen Leuchtreklamen, den Apfel der Verführung in den Händen (war das nicht andersrum?) und sehen aus, als seien sie gerade zwölf geworden. Ein Ausgang-Highlight ist hingegen das Viertel Golden Gai gleich nebenan, das einen üblen Ruf hat und wo ich mich gleich wie zu Hause fühle, weil ich hier, ganz anders als überall sonst in der Stadt, das erste Mal nicht Angst davor habe, den nächsten Fehler zu begehen, respektive in einen Fettnapf zu trampeln. Auf der Fläche von maximal zwei Fussballfeldern finden sich über 200 Bars. Sie sind winzig, sie sind verschachtelt, in jeder hat es Platz für vier bis maximal acht Menschen, wenn man sich nahe kommt. Wenige hundert Meter weiter zeigt mir Brian eine weit grössere (also, eine normalgrosse) und schummrig-gemütliche Bar. Was für ein Vergnügen, in der Stammbar von Haruki Murakami einen Whisky zu trinken! Brian übrigens, der ausschliesslich über Energiethemen schreibt und nach dem Unglück in Fukushima eigentlich gleich wiedernach Hause reisen wollte, gibt unumwunden zu, dass er in Tokio beinahe zum Trinker geworden ist. Und dass er wieder weg will. Nach Europa. «Weil ich um keinen Preis in diesem Land hier alt werden will.»

Manchmal, ich gebe es zu, schüttle ich hier auch verständnislos den Kopf. Zum Beispiel wegen dieser Sache mit dem Sich-Verbeugen. Im Internet findet sich so mancher Japanknigge, der einen davor bewahren will, stündlich einen Fauxpas zu begehen. Darin lernt man auch, dass man sich zur Begrüssung verbeugt. Schön und gut. Doch es verbeugt sich auch die Verkäuferin hinter der Kasse, wenn man ein Pack Kaugummi kauft. Ein Kellner in der Bar verbeugt sich so lange, dass er immer noch auf seine Schuhspitzen blickt, als ich mich oben an der Treppe noch einmal umwende. Das Personal im Einkaufscenter, das sich in den Personalbereich begibt, dreht sich vor der Tür um und verbeugt sich vor der Einkaufshalle, auch wenn weit und breit kein Mensch ist. Sogar der Fluglotse verbeugt sich eine halbe Minute lang vor dem Flugzeug, als es ans Gate rollt. Nach zwei Wochen ertrage ich diese endlosmassenhafte Verbeugerei kaum mehr, die Menschen kommen mir so unterwürfig vor, dass ich sie am liebsten schütteln möchte. Ich weiss … ihr dürft mich fortan Kulturbanause nennen. Aber ich tue mich damit wirklich schwer.

Ich frage mich, ob man ein anderer Mensch ist, wenn man so sehr in der Masse aufwächst, wie das Japaner in den Städten gezwungenermassen tun. Ob es dann einfacher ist, sich selbst nicht so wichtig zu nehmen, sich nicht als Individuum zu sehen sondern als Teil der Gesellschaft. Als Puzzelteilchen im grossen Ganzen, was wir ja eigentlich sind. Und ich frage mich, wie glücklich man dabei sein kann. Als kleiner Fisch im Schwarm, immer mit dem Strom schwimmend. Ich habe vor Jahren Murakamis Buch über den Giftgasanschlag in der U-Bahn gelesen, und ein Satz eines Opfers ging mir nie mehr aus dem Kopf. Der Mann schleppt sich vergiftet die Treppe der U-Bahnstation hoch und bricht zusammen. Sein letzter Gedanke ist nicht etwa: Scheisse, ich sterbe jetzt. Sondern er denkt: Mist, jetzt werde ich nie mehr ein nützliches Mitglied für diese Gesellschaft sein. Die hiesige Gesellschaft erscheint mir wie eine homogene Masse. Menschen, Menschen, Menschen, überall, in Massen. Es mutet seltsam an, dass jemand in Europa das Wort «Dichtestress» erfunden hat. Sowohl in Tokyo wie auch in Osaka gibt es Orte, dort drängeln sich die Menschen Abend für Abend so dicht wie dies die Schweizer höchstens am Zürifest tun. Und obwohl es in manchen Hochhäusern über 30 Restaurants gibt, sitzt man mancherorts so eng, als sässe man dem Nachbarn auf dem Schoss.

In einem der wenigen Cafes, in denen man draussen sitzen kann, die nicht im Keller und nicht im neunten Stock liegen, höre ich plötzlich die Rufe von Krähen. Ich blicke in den Himmel hinauf und sehe die schwarzen Flieger, die sich in der Glasfassade spiegeln. Stadtkrähen im Hochhausdschungel. Ich frage mich, ob die Hochhäuser ihre neuen Bäume sind. Am nächsten Tag sind die Krähen verschwunden. Nur Tauben picken zu meinen Füssen auf dem Asphalt herum, diese universalen Vögel, denen ich überall auf der Welt schon begegnet bin und die überall gleich aussehen. Anders als die Krähen, die je nach Kontinent ihr Aussehen variieren, fast so wie der Mensch.

An einem anderen Tag schreibe ich in einem Cafe in einem Shoppingcenter an meinem neusten Krimi. Nebenan versucht eine Kleiderverkäuferin durch ununterbrochenes Werben ihre Pullover an die vorbeieilenden Frauen zu bringen. Ihre nasale Stimme ist hoch und schrill, sie klingt wie das Quietschen eines Ferkels. Als sie sich kurz mit einer Freundin unterhält, merke ich, dass sie jetzt ganz anders klingt. Sie hat zwei verschiedene Stimmen. Zwei verschiedene Lächeln. Und ich frage mich, ob sie auch zwei Gesichter hat.

Ich denke, das ist es, was mich an Japan irritiert. Dass viele der Menschen hier Masken zu tragen scheinen, hinter denen sie ihre Individualität und ihre Emotionen verstecken, um in der Masse zu verschwinden.

Aki, meine japanische Freundin, die ich nach 23 Jahren zum ersten Mal wiedersehe, hat versucht, ihren eigenen Weg zu gehen. Ein Kampf, der Spuren hinterlassen hat. Die Schwere des Lebens hat meiner Freundin die Fröhlichkeit und das Lachen gestohlen. Wir beide haben viele unsere Ziele erreicht und die Träume nicht verloren, doch meine Freundin hatte unterwegs viel höhere Hürden zu überwinden. Sie hat eine Weile in den USA gelebt, doch sie ist zurück in Tokio, wo die Probleme die gleichen wie vor 23 Jahren sind: Der Druck der Eltern, endlich einen Mann zu heiraten und ein Kind zu kriegen, ein ordentliches japanisches Leben zu führen. Den Konventionen zu entsprechen. Es ist schön, Aki nach so langer Zeit wieder zu sehen, aber auch traurig, weil sie eine müde Frau geworden ist. Gezeichnet von einem Leben das bestimmt wird durch den Zufall, wo wir geboren worden sind.

Das war Japan. Vietnam ist wieder ganz anders. Auch hierzu gibt es bereits so vieles zu erzählen. Zum Beispiel, warum ich hier eine Frau treffe, die ich noch niemals gesehen habe und die mir trotzdem gleich viel näher steht als Aki, oder warum mein Cousin und ich im Kajak mitten in der Nacht beinahe verloren gegangen sind. Aber ich will eure Lesegeduld nicht überstrapazieren. Update folgt