Die ganze Welt im Gerichtssaal

Es ist über dreißig Jahre her, dass ich zum ersten Mal in einem Gerichtssaal saß und einen Mordprozess mitverfolgte. Der Fall war aufsehenerregend, die Berichterstattung seitenfüllend, die öffentliche Meinung gespalten: Die einen glaubten an die Schuld des Angeklagten, die anderen waren von seiner Unschuld überzeugt. Der Mann hatte seine Frau als vermisst gemeldet – Tage später wurde sie von ihrem Vater bei ihr zu Hause in der Tiefkühltruhe gefunden. Sie war erschlagen worden. Ihr Mann wurde freigesprochen.

Der Fall hat mich, so glaube ich heute, »kriminalisiert«. Ich schwänzte damals die Schule, um die Verhandlung mitzuerleben, ich war fasziniert von dem Geschehen vor Gericht – und das bin ich auch heute noch, selbst wenn ich die Totschläger und Mörder, denen ich in den Gerichtssälen begegnet bin, kaum mehr zählen kann. Denn als ich mit einundzwanzig Jahren eine Praktikumsstelle als Journalistin antrat und ein erster Gerichtsfall anstand, war klar, dass ich die Berichterstattung übernehmen wollte. Und obwohl ich weder vom Schreiben noch von der Justiz eine große Ahnung hatte, konnte ich mir den Auftrag unter den Nagel reißen. Die Gerichtsberichterstattung blieb ein Berufsleben lang meine Lieblingsdisziplin – auch, weil sie immer wieder herausfordernd war.

Im Gerichtssaal prallen Welten aufeinander. Hier kreuzen sich die Lebenswege unterschiedlichster Menschen. Im Publikum sitzen Angehörige von Opfern neben Angehörigen von Tätern. Vorne nehmen die Angeklagten Platz, schräg hinter ihnen sitzen ihre Opfer, falls sie überlebt haben, oder die Hinterbliebenen mit ihren Anwälten. Täter, Opfer, Angehörige – Menschen in Ausnahmesituationen. Schwere Delikte, tragische Schicksale haben sie in diesem Moment an diesem Ort zusammengeführt, um das Geschehene zu rekapitulieren und dass Unfassbare zumindest juristisch fassbar zu machen. Verteidiger und Staatsanwälte werfen sich Paragrafen um die Ohren, sie schildern das Delikt mal aus der einen, mal aus der anderen Perspektive, wobei sich die Geschichten selten gleichen. Es ist die Aufgabe des Richters, nach der Wahrheit zu suchen – obwohl es in den meisten Fällen die eine absolute Wahrheit gar nicht gibt.

Seit über dreißig Jahren sitze ich als Journalistin mit in den Gerichtssälen. Dabei geht es mir immer um mehr als die juristische Beurteilung eines Deliktes – es geht mir um die Geschichten hinter den Menschen, ich möchte verstehen, wie es so weit hat kommen können, dass sie alle hier vor dem Richter zusammentreffen. Warum wird jemand zum Täter? Wie lebt man als Opfer weiter?

Als Journalistin muss ich einerseits die juristische Sprache übersetzen, sodass sie allgemein verständlich wird – andererseits darf ich darob nicht im Paragrafendschungel verloren gehen. Denn sonst verliere ich das Eigentliche aus dem Blick: Die Schicksale, um die es hier geht, über die hier verhandelt wird. Die zweite Herausforderung: Die Geschichten sind immer zu groß, um sie in einem Zeitungsartikel abzuhandeln. Manchmal sitzt man tagelang oder wochenlang im Gerichtssaal und notiert alles mit – und die vollgeschriebenen Notizblöcke stapeln sich. Was also greife ich heraus, worauf lege ich den Fokus, während ich trotzdem das große Ganze abzubilden versuche und allen Seiten gerecht werden will? Besonders wichtig ist mir dabei, wenn irgend möglich den Opfern eine Stimme zu geben, oder den Hinterbliebenen des Opfers. Denn unser Justizsystem ist auf den Täter ausgerichtet: Um ihn dreht sich die Gerichtsverhandlung – die Opfer gehen manchmal fast vergessen.

Oft werde ich gefragt, wie ich es aushalte, mit krassen Verbrechen konfrontiert zu werden und anschließend darüber zu berichten. Viele glauben, diese Arbeit müsse mich runterziehen und mich den Glauben an das Gute im Menschen verlieren lassen. Doch dem ist nicht so, im Gegenteil. Sitze ich als Journalistin im Gerichtsaal, übernimmt mein Schreibblock oder mein Laptop die Aufgabe eines kleinen, professionellen Schutzwalls, der verhindert, dass mir das Verbrechen allzu nahe geht. Nichtsdestotrotz berühren mich die Geschichten, sie machen mich nachdenklich, traurig, betroffen. Das ist gut so; ich will nicht abgebrüht und distanziert über Verbrechen berichten, ich bin froh, dass sie mir noch immer nahe gehen. Gleichzeitig ist mein Glaube an das Gute im Menschen ungebrochen. Wer die Schattenseiten kennt, lernt die Sonnenseite schätzen. Verlasse ich nach einem Prozess das Gericht, erfüllt mich stets eine tiefe Dankbarkeit: Ich bin dankbar dafür, dass ich ein Leben leben darf, das mich bis heute einzig aus beruflichen und noch nie aus privaten Gründen in einen Gerichtssaal geführt hat, weder als Opfer noch als Beschuldigte. Beides ist keine Selbstverständlichkeit.

Es gibt Fälle, die sitzen für immer in meinem Kopf, die lassen mich nicht mehr los. Zwei Verbrechen haben mich besonders berührt; beides Delikte, die auch nach langen Gerichtsverfahren nicht verstanden werden können, in denen die Frage nach dem Warum mein Vorstellungsvermögen sprengt. Zum einen der Vierfachmord von Rupperswil; der Täter, ein junger Mann aus der Nachbarschaft, Juniorenfussballtrainer, zuvor nie polizeilich aufgefallen, klingelte kurz vor Weihnachten an der Tür eines Einfamilienhauses und gab sich als Psychiater der Schule des jüngeren Sohnes aus. Ein Mädchen habe sich nach Mobbing umgebracht, sagte er, er müsse mit dem Sohn unter vier Augen sprechen. Dann nahm er beide Söhne und die Freundin des älteren Sohnes als Geisel, schickte die Mutter los, um Geld zu beschaffen. Sie raste zur Bank, sagte niemandem ein Wort, dachte, sobald sie das Geld habe, seien ihre Kinder frei. Doch der Täter ließ sie nicht frei: er missbrauchte den jüngeren Jungen sexuell, danach schnitt er allen die Kehle durch und zündete das Haus an. Unmittelbar nach der Tat lud er Freunde zum Abendessen und ins Casino ein. Einfach so. Beim zweiten Fall forderte ein junger Mann seinen Freund zur Mutprobe auf; er sollte in eine Höhle kriechen. Kaum war der Freund drin, schüttete er die Höhle zu, brätelte eine Wurst, während er das verzweifelte Klopfen des Gefangenen hörte, und fuhr nach Hause. Die Leiche seines Freundes wurde erst ein Jahr später durch Zufall gefunden.

Es sind sinnlose Verbrechen, die nicht fassbar sind. Und obwohl man erwartet, dass der Täter ein Monster sein muss, stellt man fest, dass auf der Anklagebank ein Mensch sitzt.

Ich wünschte, ich könnte schreiben, es sei tröstlich, dass in weiten Teilen unserer westlichen Welt das Justizsystem funktioniert und Täter zur Rechenschaft gezogen werden. Zwar sind Gerichtsverfahren tatsächlich auch kollektive Verarbeitungsprozesse: Sie sind ein Versuch, das Unverständliche zu verstehen, eine Art Schlussstrich zu ziehen und die gesellschaftliche Ordnung wieder herzustellen, die aus dem Lot geraten ist. Doch Wiedergutmachung bringen sie nicht. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass es im Strafprozess um Rache oder Vergeltung geht, die der Staat für den Einzelnen ausübt. Ein Strafverfahren wird nicht geführt, um dem Opfer Genugtuung zu verschaffen, sondern weil der Täter Gesetze gebrochen hat. Ein Gericht kann zwar Recht sprechen, Gerechtigkeit herstellen kann es nicht. Straftaten sind nur selten wieder gutzumachen, Tötungsdelikte allerdings niemals. Kein Urteil bringt Menschenleben zurück.

Verbrechen unserer Zeit halten uns einen Spiegel vor und offenbaren schonungslos die Schattenseiten unserer Gesellschaft. Es stellt sich die Frage: Was machen die Menschen aus dem, was die Gesellschaft aus ihnen macht?