Leben in einer anderen Welt

Ein Gastbeitrag von Christine Brand, erschienen im Spiegel-Magazin

Zu Hause zu bleiben ist meist der bequemere Weg. Doch es gibt viele Gründe, die Zelte abzubrechen und hinaus in die Welt zu ziehen. Der Wichtigste: Das Leben wird grösser, wenn wir uns ferne Orte zu einer neuen Heimat machen.

Es gibt sie durchaus, die Momente, in denen man sich fragt: Was mache ich eigentlich hier? Warum zum Teufel bin ich nicht in meiner ersten Heimat geblieben; in der Schweiz, wo alles blitzblank sauber ist und einwandfrei funktioniert, wo Bus, Mensch, Bahn, ja sogar die Kehrrichtabfuhr pünktlich sind. Dort, wo die Regale in den Läden prall gefüllt sind oder per Mausklick im Nu bestellt werden kann, was das Herz begehrt, wo alle meine Sprache sprechen, alles vertraut und verständlich ist, und nicht hinter jeder Ecke ein kultureller Fettnapf lauert. Kurzum: Warum blieb ich nicht dort, wo zumindest die äußeren Umstände das Leben ach so einfach machen?

Vielleicht, weil einfacher nicht per se besser, sondern oft auch langweiliger und weniger aufregend ist.

Ich wohne mal hier, mal da, die meiste Zeit aber auf der Insel Sansibar, die wie eine verformte Perle vor der Küste Ostafrikas liegt und die auf den ersten Blick paradiesisch wirkt. Doch hinter der touristischen Kulisse ist das Leben alles andere als einfach. Die einheimische Bevölkerung ist bitterarm. Der Strom fällt oft stundenlang aus, Wasser hat es manchmal, manchmal nicht, sauber ist es selten. Die medizinische Versorgung ist katastrophal schlecht; hier ist man gut beraten, nicht krank zu werden, selbst einen entzündeten Zahn gilt es zu vermeiden. Benötigt man mal einen offiziellen Stempel auf einem Papier, verbringt man Tage in Warteschlangen und kommt am Ende doch nicht umhin, einige Beamte zu schmieren. Pünktlichkeit – geschweige denn Kehrrichtabfuhren – existieren hier nicht. Langsamkeit ist das Lebensmotto schlechthin, sodass man es sich am besten ebenfalls zu eigen macht, will man nicht verzweifeln. Pläne zu schmieden, macht wenig Sinn; wenn, dann braucht man einen Plan A, einen Plan B, C, D und E – und Plan F geht dann eventuell auf.

Auf Sansibar lebt man im Moment und stößt manchmal an seine Grenzen – und genau darum liebe ich es, hier zu sein, in dieser anderen Welt, die ständig neue Herausforderungen bringt. Denn woran soll man wachsen, wenn immer alles läuft wie geschmiert, wenn man in festgefahrenen Strukturen, im stets gleichen Rhythmus und Umfeld lebt und selten etwas Neues passiert? Das Leben fühlt sich hier anders an, intensiver, oft wird es auf das Elementare reduziert, wodurch sich vieles relativiert. Ich fühle mich hier wie ein anderer Mensch: Entschleunigt, gelassener, geduldiger, kreativer, sehr viel freier, und ja, auch glücklicher. Weil ein Leben weit weg von der westlichen Konsumgesellschaft und der agendagesteuerten Hektik unglaublich entspannend ist. Gleichzeitig wird man zwangsläufig toleranter, wenn man im Ausland lebt – weil man auf einmal selbst die Fremde ist, Teil der Minderheit, jene, die so halb aber doch nie ganz dazugehört, weil sie nicht hier geboren ist. Man muss sich anpassen an bestimmte Gepflogenheiten, Bräuche und Umgangsformen, selbst wenn sie einen manchmal überfordern und man auf Nachsicht angewiesen ist. Es schadet nicht, für einmal auf der anderen Seite zu stehen und den Perspektivenwechsel zu leben.

Zu Hause zu blieben ist meist der bequemere Weg. Wer aufbricht, muss loslassen können und im Kopf beweglich sein. Neugierde ist eine weitere Zutat, die das Leben in der Fremde einfacher macht: Es gibt da draußen in der Welt so viel Neues, Schönes und Aufregendes zu entdecken, wenn man bereit ist, offen darauf zuzugehen. Wer sich traut, wird dafür reich belohnt: Das Leben wird grösser, wenn wir uns ferne Orte zu einer neuen Heimat machen – der erweiterte Erfahrungsschatz, die Begegnungen mit Menschen, die unvergesslichen Augenblicke, die sich in der Seele einen Dauerparkplatz suchen, und immer wieder dieses kindliche, erquickliche Gefühl, etwas zum allerersten Mal zu sehen oder zu tun und stets dazuzulernen.

Tatsächlich bleibt das Fremde nicht lange fremd: Es ist erstaunlich, wie anpassungsfähig der Mensch ist. Vieles wird einem schnell vertraut. Es dauert keine Woche, bis sich erste Rituale einschleichen, bis ein Lieblingscafé oder eine bevorzugte Joggingrunde gefunden wird, bis man Menschen trifft, die Freunde werden. Wer auswandert oder zum digitalen Nomaden wird, verliert nicht sein Zuhause, sondern gewinnt eines oder mehrere dazu. Ist es nicht seltsam, dass das Wort «Daheim» grammatikalisch nur in der Einzahl existiert, obwohl man sich an mehreren Orten zu Hause fühlen kann?

So sehr zu Hause, dass der Kulturschock nicht selten dann am größten ist, wenn man in die alte Heimat zurückkehrt; er erwischt einen kalt von hinten. Man rechnet nicht damit, dass das Vertraute plötzlich fremd geworden ist. Zuhause ist zwar alles beim Alten – aber wir sind nicht mehr dieselben. Das Leben in der Fremde verändert uns als Menschen, die Erfahrungen prägen uns, an der Herausforderung sind wir gewachsen, unser Blick aufs Leben ist breiter geworden. Doch keine Bange; man gewöhnt sich wieder an das alte Dasein – manchmal schneller, als einem lieb ist.